Res Hafner

Wo Gott hockt

Der Text wurde zum Anlass der Ausstellung "Wo Gott hockt" mit verschiedenen Sitzgelegenheiten und zahlreichen Texten weiterer Autorinnen und Autoren in der Kirche Grafenried im Sommer 2022 ausgestellt.

Liebe Tante Lydia

Du wusstest genau, wo Gott hockt - ohne den leisesten Zweifel: In der Bibel, die dir Hort der Zuflucht und des Trostes war! Darin stand für dich die absolute Wahrheit.

Ich mochte dich sehr, auch wenn Onkel Otto dich eine „Stündelere“ schimpfte und hinter deinem Rücken alte, vertrocknete Jumpfer nannte. Für dich habe sich nie ein Mann je interessiert, ausser vielleicht der Herrjesuchrist. Vater hingegen meinte, Onkel Otto finde den Heiligen Geist in der Schnapsflasche. Ich habe mir den Heiligen Geist so ähnlich vorgestellt, wie den Lampengeist bei Aladin und war deshalb eher auf Onkel Ottos Seite.

Nun bist du schon eine Weile im Himmel, liebe Tante Lydia. Ich wünsche dir von Herzen, dass du hin und wieder neben Gott, oder zumindest neben seinem Sohn hocken darfst!

 

Hämpu, alter Kämpfer!

Jedes Mal, wenn wir uns sehen, ist es wie früher. Wie oft sind wir zusammen um die Häuser gezogen, haben nächtelang gebechert und blagiert, dass sich die Tramgeleise im Zytgloggerank gestreckt haben. Schön war’s! Du konntest und kannst stets jedem durchgeben, wo Gott hockt. Dabei bist du sicher, dass es ihn nicht gibt. Alles Gugus, die Bibel voller Lügen und Märchen! Mein Einwand, zu behaupten, Gott gebe es nicht sei etwa so schlau, wie zu behaupten, Obelix gebe es nicht, hat dich etwas verwirrt. Doch nachzu-denken, ob Gott die Menschen erfunden hat oder umgekehrt, ziehst du gleichwohl nicht in Betracht. „Ich bin Atheist, Religion ist Mist, Ende Durchsage!“ Henusode. Glücklicherweise haben wir denselben Weingeschmack. Ich freue mich schon auf unsere nächste Exkursion!

 

Liebe Helena

Wie schön du auf deinem Cello spielst! Und du kennst dich auch in Geschichte und Philosophie aus, du kennst die wichtigsten Denkschulen des 20. Jh. von Arendt bis Žižek. Im Gegensatz zu mir hast du die Bibel integral gelesen. Die Antworten an deinen jüdischen Opa und deine kommunistische Mama heissen Agnostik und Aufklärung. Als deine kleine Tochter Olga Gott als alten Mann auf einer Wolke hockend gemalt hat, hast du ihr das nicht ausgeredet. Wenn sie daran glaube, dann existiere er wohl auch. Die Aufklärung komme dann noch früh genug. Im übrigen habe der Michelangelo ja Ähnliches an die Decke der Sixtina gepinselt, nur nicht so genial wie deine Tochter. Eine Grossmutter als Gott wäre dir aber lieber. Deine kenntnisreichen und toleranten Ansichten beeindrucken mich. Dass du, der Rationalität verpflichtet, Spiritualität belächelst, verstehe ich nicht ganz. Wie beseelt du die Sarabande aus Bachs 3. Cellosuite spielst! Hockt da nicht eine tiefe Spiritualität drin?

 

Liebe Tante Lydia, lieber Onkel Otto, lieber Hämpu, liebe Elena und liebe Olga

Nehmt es mir bitte nicht übel, dass ich euch herbeifantasiert habe, ohne dass es euch in Wirklichkeit gibt. In mir lebt ihr. Ich habe euch in anderen Menschen gefunden, gehört, erlebt, erfahren, von euch in Büchern gelesen.

Nun hocke ich in unserem Kirchli, wie so oft, gerne allein und denke. Oder denke auch nicht. Ich beneide euch ein wenig. Ihr seid euch eurer Positionen gewiss.

Was sind dagegen meine Ungewissheiten und meine Zweifel? Gewiss ist mir mein Unwissen. Widerspruch regt sich in mir, wenn mir jemand weismachen will, wo Gott hockt.

 

Beim Wandern spüre ich es manchmal, oder auch, wenn ich alleine hier sitze, auf dem bescheidenen Kirchenbänkli: Geht da nicht jemand neben mir? Hockt da nicht etwas hinter, neben, unter, über oder vor mir? Wer oder was das wohl sein mag?

 

Bhüet di Gott, Gott, wo du auch hocken magst!

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